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Das unsichtbare Kabinett des Georges Canguilhem

Der Mediziner und Philosoph Georges Canguilhem (1904-1995) war einer der massgeblichen Lehrer von Michel Foucault. Doch nicht nur für diesen, auch für viele andere Philosophen aus Foucaults Generation spielte Canguilhems historische Epistemologie des Lebens eine wegweisende Rolle. Merkwürdig ist dabei, dass diese Rolle vielen Zeitgenossen verborgen blieb. Ein kurzer Blick auf Canguilhems Wirken beweist aber das Gegenteil und zeigt auf, dass dessen Einfluss auf die französische Philosophie der Nachkriegszeit immens gewesen sein muss. Die Strukturalisten, Marxisten, Psychoanalytiker, Phänomenologen und Soziologen unter ihnen bildeten ein unsichtbares Kolleg von Adepten, die in die Lehre von Canguilhem gingen.

Das hatte zum einen mit dem Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte zu tun, den Canguilhem seit 1955 als Nachfolger von Gaston Bachelard an der Sorbonne innehatte. Mit dieser Professur wurde er gleichzeitig Direktor des Pariser Institut d'histoire des sciences et des techniques und verfügte über eine entscheidende institutionelle Position im Bereich der Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Zum anderen war Canguilhem bereits von 1948 an Generalinspekteur des nationalen Bildungswesens. In dieser Funktion war er nicht nur jahrzehntelang massgeblich beteiligt an der Programmgestaltung des Philosophieunterrichts an französischen Gymnasien und Universitäten; er kontrollierte damit auch als oberster Hüter die agrégation, jene für das französische Hochschulsystem so typische Staatsexamensprüfung für angehende Philosophielehrer und obligatorisches Sprungbrett für eine akademische Karriere. Als Mitglied dieser Prüfungs- und Zulassungsausschüsse konnte Canguilhem daher ohne weiteres die Bekanntschaft mit der neuen Studenten-Generation machen, die in den 1950er und 1960er Jahren ihre Ausbildung in Philosophie erfuhr.

Beide Positionen zusammengenommen – Vermittler der epistemologischen Tradition sowie Oberaufseher der Philosophie – machten aus ihm den prädestinierten "Organisator des philosophischen Stammes".[1] Eine kurze Auflistung müsste den unsichtbaren Einfluss belegen können: So sass Canguilhem beispielsweise Foucaults Aufnahmeprüfung (1947) an der École Normale Supérieure vor, amtierte beim mündlichen Teil von dessen agrégation (1951) und begutachtete die Doktorarbeit Folie et déraison. Histoire de la folie à l'époque classique (1961).[2] Canguilhem war auch der anfängliche Betreuer von Pierre Bourdieus 1955 angemeldeter, dann aber 1957 abgebrochener Doktorarbeit über die "Zeitstrukturen des Gefühlslebens", die sich auf Arbeiten aus Biologie und Psychologie stützen sollte. Nach Abbruch der Arbeit verschaffte Canguilhem Bourdieu eine Stelle als Lehrer in der Provinz.[3] Ähnliches galt für Michel Serres‘ Doktorarbeit, die Canguilhem im Jahre 1968 begutachtete und Serres anschliessend eine Stelle für Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne verschaffte. An der dortigen philosophischen Fakultät hatte bereits Jacques Derrida von 1960 bis 1964 unter anderem auch als Assistent von Canguilhem gearbeitet.[4] Und unter den universitären Abschlussarbeiten, die Canguilhem an der Sorbonne zu betreuen hatte, war diejenige von Gilles Deleuze: die Studie zu David Hume gab Anlass zu dessen erster veröffentlichter Monographie mit dem Titel Empirisme et subjectivité.[5] Der Technikphilosoph Gilbert Simondon muss ebenso in die Liste aufgenommen werden: beide Dissertationen (L'individuation à la lumière des notions de forme et d'information und Du Mode d'existence des objets techniques) aus dem Jahre 1958 sind unter der Ägide von Canguilhem geschrieben worden.[6]


v.l.n.r.: Jean Hyppolite, Michel Foucault, Georges Canguilhem, Dina Dreyfus, 1965 (Quelle: Institut national de l'audiovisuel)

Unter all den Schülern, die direkt oder indirekt mit der Lehre und den Büchern von Canguilhem zu tun gehabt hatten, gilt Foucault wohl als der Bekannteste. In einem Brief vom Juni 1965, den der Foucault-Biograph Didier Eribon überliefert hat, schrieb Foucault an Canguilhem: "Als ich zu arbeiten begonnen habe, vor etwa zehn Jahren, kannte ich Sie noch nicht – nicht Ihre Bücher. Aber was ich seither gemacht habe, hätte ich sicherlich nicht zustande gebracht, wenn ich Sie nicht gelesen hätte. [Meine Arbeit] trägt im Grunde Ihr Zeichen." Foucault wusste aber "nicht genau zu sagen wie noch wo, noch gar in welchen ‚methodischen‘ Aspekten" dieses Zeichen sich erkennbar machen konnte. Er liess aber Canguilhem wissen, dass seine Positionen wie auch Gegenpositionen nur möglich seien "auf der Grundlage dessen, was Sie gemacht haben, auf der Grundlage jener Analyseschicht, die Sie eingeführt haben, jener wissenschaftstheoretischen Eidetik, die Sie erfunden haben. Faktisch kommen die ganze Geburt der Klinik und alles Spätere von daher und sind vielleicht sogar darin verwurzelt. Eines Tages müsste ich dazu fähig sein, diese Beziehung genau zu erfassen."[7]

Dreizehn Jahre später war Foucault in der Lage, diese Beziehung ausführlicher zu benennen, als er nämlich 1978 das Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Canguilhems Le normal et le pathologique verfasste und ihm darin ein Denkmal setzen sollte.[8] Wohl als Erster überhaupt stellte er in wesentlichen Zügen das historisch-epistemologische, und stets an die Lebenswissenschaften gekoppelte Vorgehen von Canguilhem vor. Einer der zahlreichen "methodischen Aspekte", die nun zur Sprache kamen, bezog sich auf die spezifische Rolle, die die Wissenschaftsgeschichte innerhalb der französischen Philosophie für die Bereiche der Vernunftkritik und des anti-subjektivistischen Denkens besass. Und das, was Foucault darüber in Bezug auf Canguilhem (und übrigens ebenso auf ihr deutsches Pendant, die "Frankfurter Schule") zu berichten wusste, gilt sicherlich auch für ihn selbst und sein eigenes Denken: "In der französischen Wissenschaftsgeschichte wie in der deutschen kritischen Theorie geht es letztlich darum, eine Vernunft zu überprüfen, deren strukturelle Autonomie mit der Geschichte von Dogmatismen und Despotismen verknüpft ist – eine Vernunft folglich, die dann einen Befreiungseffekt besitzt, wenn es ihr gelingt, sich von sich selbst zu befreien."[9]


Foucault und Canguilhem, 1965 (Quelle: Institut national de l'audiovisuel)

Canguilhem als Vorbild für alle nach ihm einsetzende poststrukturalistische Vernunftkritik? Für den "Historiker der Rationalitäten", wie Foucault auch Canguilhem nannte, vollzog sich jegliches historisches Überprüfen der Vernunft entlang von wissenschaftlichen Diskursen.[10] Aber auch wenn Canguilhems Absage an das Kontinuitätsdenken der Vernunft stets gekoppelt blieb an die Beschäftigung mit Rationalitätsformen bereits etablierter Wissenschaften vom Leben, waren seine Erkundungen von Diskontinuitäten in der Geschichte der wissenschaftlichen Vernunft sicherlich wegweisend. Bei all den Erweiterungen und Unterschieden, die sich zwischen Canguilhems historischer Epistemologie der Wissenschaften und Foucaults archäologischen Grabungen von Wissensdiskursen gewiss finden lassen, kann man davon ausgehen, dass das poststrukturalistische Abarbeiten am Vernunftbegriff nur möglich war vor dem Hintergrund dessen, was Foucault Canguilhems "erkenntnistheoretische Eidetik" nannte. Die Rede von der Eidetik, verstanden als Vorstellungsvermögen, als eine Art Anschauungslehre, die schulisch vermittelt werden konnte, bezog sich wohl auf Canguilhems Fähigkeit, mittels eines vielleicht nicht immer besonders spektakulären wissenschaftshistorischen Gegenstands eminent philosophische Fragen nach Wahrheit, Vernunft und Erkenntnis aufzuwerfen und zu behandeln.

Eine Fähigkeit, die Foucault dann veranlasste, Canguilhems anhaltenden Einfluss auf die junge Generation recht grosszügig zu deuten. "Aber nehmen Sie Canguilhem weg und Sie verstehen fast nichts mehr von Althusser, vom Althusserianismus und von einer ganzen Reihe von Diskussionen der französischen Marxisten", klärte Foucault seine Leser auf und setzte weiter fort: "Sie begreifen nicht mehr, was das Besondere an Soziologen wie Bourdieu, Castel, Passeron ausmacht, was sie im Feld der Soziologie charakterisiert. Es entgeht Ihnen ein wesentlicher Aspekt der bei den Psychoanalytikern und insbesondere Lacanianern geleisteten Arbeit."[11] Man möchte hier gerne einhaken und die Foucaultsche Warnung angesichts der Fülle an aufgezeigten Verbindungen mit folgenden Worten zweckentfremden: "Nehmen Sie uns ja nicht Canguilhem weg; sonst verstehen wir weder etwas von Foucault noch vom französischen Poststrukturalismus."



[1] Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 165.

[2] Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973). Für die biographischen Angaben zu Foucault vgl. Eribon, Foucault, S. 164f.

[3] Vgl. Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 49.

[4] Vgl. dazu Benoît Peeters: Jacques Derrida. Eine Biographie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2013.

[5] Gilles Deleuze: Empirisme et subjectivité. Essai sur la nature humaine selon Hume, Paris 1953.

[6] Gilbert Simondon: Du Mode d'existence des objets techniques, Paris: Aubier 1958; L'individuation à la lumière des notions de forme et d'information, Paris: Jérôme Million 2005.

[7] Zit. n. Eribon, Foucault, S. 165.

[8] Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, München: Hanser 1974; Michel Foucault: Vorwort von Michel Foucault, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Band III: 1976-1979, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 551-567.

[9] Ebd., S, 555f.

[10] Ebd., S. 566.

[11] Ebd., S. 551.

  1. Comment by thomas eggeling m.a.

    übrigens, was den datenschutz betrifft (der häufig genug ein fluch ist): ich habe grundsätzlich nichts dagegen, wird meine e-mail-adresse genannt. ich bin stets am dialog u. diskurs interessiert.

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