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Die Regierung der Sicherheit – Über das Mögliche und das Fiktive

"Sicherheitsdispositive", so Foucault, haben "die Tendenz […], sich auszudehnen."[1] Unter dem Vorzeichen der Sicherheit können immer weitere Lebensbereiche Kontroll- und Überwachungs-, Regulierungs- und Normalisierungstechniken unterstellt werden. Für unsere Gegenwart sehen die Sozialwissenschaften diese Beobachtung unmittelbar bestätigt und damit auch den paradoxen Effekt, dass die Fixierung auf Sicherheit unsere Handlungsfähigkeit nicht nur absichert, sondern auch einengt. "Mit Unsicherheit leben" und uns auf unsere eigenen Widerstandskräfte besinnen sei deshalb, worauf wir uns einstellen müssten. Was aber macht diese Tendenz zur Expansion von Sicherheit aus? Und wie lässt sich das Sicherheitsdenken aufbrechen, ohne dass Unsicherheit nun ihrerseits zu einer Maxime der Regierung und Strategie der Responsibilisierung wird?


Bansky: One Nation Under CCTV (London 2008) | Quelle: www.bigbrotherwatch.org.uk

Die Regierung der Sicherheit vollzieht sich notwendig an der Grenze des Wissens. Sie muss mit dem Möglichen rechnen, mit Gefahren und Bedrohungen, die noch nicht eingetreten sind. Das Mögliche ist deshalb in einem zweifachen Sinne ihr Metier. Es markiert die Grenze des Wissens – die Gefahr ist in dem Maße unbekannt, in dem sie sich noch nicht materialisiert hat – und zugleich begründet es buchstäblich die Regierung der Sicherheit. Eben dies ist für das liberale Sicherheitsdispositiv bezeichnend: Freiheit, die gewährt werden soll, muss als solche auch abgesichert: geschützt werden.[2] Sie steht nicht im Gegensatz, ist vielmehr die Voraussetzung der Ausübung von Macht, in zweierlei Hinsicht.[3] Zum einen ist sie nicht einfach vorhanden, sondern wird politisch erst hergestellt, ermöglicht. Als ein Feld des Möglichen (des Handelns, der Gestaltung) ist sie zum anderen immer auch ein Interventionsfeld der Macht.

Dabei kann die Regierung der Sicherheit, indem sie das Mögliche als das (existenziell) Bedrohliche figuriert, eine besondere (temporale) Dringlichkeit und (affizierende) Eindringlichkeit entfalten. Das Mögliche evoziert die Interventionsoption, wenn nicht die Interventionsobligation. Dies umso mehr, wenn wir es heute, dem politischen Diskurs zufolge, mit einer neuen Dimension von Bedrohungen zu tun haben, die gleichermaßen unvorhersehbar wie in gewisser Weise unabwendbar sind: Wir müssen mit Katastrophen rechnen, die uns als solche vielleicht bekannt und die benennbar sind (etwa terroristische Anschläge oder Umweltkatastrophen), die aber in ihrer konkreten Erscheinungsform und ihrem Ausmaß selbst als unberechenbar gelten. Wenn das Disziplinardispositiv ein Präventionsregime der Hygiene entwickelt, in dem sich Infektionskrankheiten ebenso wie Verbrechen durch Techniken der Identifizierung, Parzellierung, Überwachung und Aussonderung beherrschen lassen (S. 36ff.), dann erweist sich das Sicherheitsdispositiv der Gegenwart als paradoxe Herausforderung, die Bedrohung als eine reale Möglichkeit zu antizipieren, ohne sie überhaupt erkennen zu können und ohne über beständige Unterscheidungsmöglichkeiten zu verfügen.

Das Mögliche ist demnach keineswegs ein unbeschriebenes Blatt: Wir haben und entwickeln immer schon Vorstellungen vom Kommenden. Auch dienen bestimmte Wissenstechniken dazu, Gefahren zu antizipieren und uns zu vergegenwärtigen. So suchen Risikotechniken den Eintritt eines Schadenfalls auf der Grundlage von Erfahrungen probabilistisch zu ermitteln, während Szenariotechniken ganz bewusst auf unsere Vorstellungskraft setzen – und sich damit als eine passende Antwort auf die besagten neuen Herausforderungen präsentieren. So erkannte etwa der von der Regierung eingesetzte 9/11 Commission Report aus dem Jahr 2004 gerade im mangelnden Vorstellungsvermögen einen Grund für das Versagen der Geheimdienste. Weil man sich nicht hatte vorstellen können, dass zivile Flugzeuge zu Massenvernichtungswaffen mutieren, habe man selbst die vorliegenden Geheimdienstinformation und Anzeichen der kommenden Gefahr nicht dechiffrieren können. An solche Einsichten knüpfen Szenariotechniken an. Davon ausgehend, dass Katastrophen unberechenbar und unvorhersehbar geworden sind, suchen sie sich von vertrauten Denkmustern zu lösen und das Unvorstellbare einer möglichen Katastrophe vorstellbar zu machen.

Im Sicherheitsdenken zeichnet sich hierin eine Verschiebung ab. Der Anspruch von Risikotechniken liegt in der korrekten Prognose. In der Annahme, dass sich letztlich eine bestimmte Wirklichkeit materialisieren wird, ist ihr Telos die Treffsicherheit. Szenariotechniken gehen demgegenüber von vornherein davon aus, dass sie sich in der Welt der Vorstellungen bewegen. Ihr Referenzpunkt ist nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern die Möglichkeit der Katastrophe, ihre Ratio nicht die Vorhersage, die Prädiktion, sondern die Prämediation, welche die Katastrophe in unserer Vorstellung vorwegnimmt – die Katastrophe selbst lässt sich ohnehin nicht verhindern.[4] Insofern verabschiedet die Szenariotechnik sich vom Prinzip der Veridiktion zugunsten der Verisimilitude[5], wie es in der ethnographischen Forschung heißt: Über die Qualität eines Szenarios entscheidet nicht die Treffsicherheit, sondern die Anschaulichkeit. Oder anders gesagt: Wahrhaftigkeit ergibt sich daraus, dass die Darstellung überzeugend und in sich stimmig ist. Das Fiktive wird so zur Maßgabe der Realität.

Nun verhält es sich allerdings bei beiden Wissenstechniken so, dass sie ihr Objekt notwendig verfehlen und damit nur ein grundlegendes, spezifisch modernes erkenntnistheoretisches Problem reflektieren.[6] Gerade weil das Mögliche, das in der Zukunft liegt, sich nicht einholen lässt, sind die Wissenstechniken der Antizipation zwangsläufig spekulativ. Zugleich sind sie fiktiv, "Realitätsverdopplung"[7], denn jede Vergegenwärtigung einer Gefahr ist ihrerseits zugleich Konstruktion. Als Verfahren der Erkenntnisgewinnung sind die Wissenstechniken selbst wirklichkeitskonstitutiv. Sie produzieren ein Wissen und eine eigene Realitätsordnung, die sie immer auch schon voraussetzen. So teilt das Risikodenken die Welt in eine "Reihe wahrscheinlicher Ereignisse" ein (S. 19). Es suggeriert solchermaßen Berechenbarkeit, während es zugleich konzedieren muss, dass die Treffsicherheit nur eine relative ist. Sie bewegt sich in der Ordnung des Wahrscheinlichen. Und wenn Szenariotechniken es darauf absehen, unsere Vorstellungsmöglichkeiten auszudehnen, so ist auch das Risikodenken davon nicht frei. Zwar ist sein Bezugsfeld die empirische Realität. Die Normalitätsvorstellungen, die es herstellt, sind empirisch ermittelt und "in der Realität" beobachtbar (S. 76). Zugleich lassen sich auf diese Weise immer neue Daten gewinnen und mögliche Faktoren und Zusammenhänge der Unsicherheit ausmachen. Es ist zum einen also gerade diese Ablösung der data doubles von der "realen Realität"[8], welche jene nahezu beliebig vervielfältigbar und rekombinierbar macht. Zum anderen sind die Normalwerte und Verteilungen, die es erlauben, die "Grenzen des Akzeptablen" (S. 20) und optimale Interventionspunkte in der Regulierung von Risiken und "Zirkulationen" (vgl. S. 78) zu bestimmen, ihrerseits Re-Präsentationen von Gefahren und Bedrohungen, an die sich unsere Vorstellungen und Bewertungen heften. Risiken sind nicht nur Kalkül, sie affizieren uns auch.

Während Foucaults Arbeiten stets davon handeln, dass unser Wissen an Techniken und Verfahren der Herstellung dieses Wissens gebunden ist, scheint das Moment der Imagination und der Affizierung in den Vorlesungen zur Herausbildung des liberalen Sicherheitsdispositivs kaum eine Rolle zu spielen. Allein im Hinblick auf den Machttypus der Souveränität heißt es, dass das Recht "im Imaginären arbeitet, da das Gesetz nun einmal nur imaginiert und sich nur ausdrücken kann, indem es sich all die Dinge vorstellt, die getan werden könnten und nicht getan werden dürfen." Die Disziplinarmacht "arbeitet gewissermaßen komplementär zur Realität" (S. 76), denn sie setzt selbst die Norm, an der sie die Abweichung und die Notwendigkeit der Intervention und Korrektur ermisst. Sicherheitsdispositive operieren demgegenüber mit einer, wiewohl künstlich erzeugten, "Naturalität" (S. 41). Es ist die empirische Generierung, welche die Dinge auf "der Ebene ihrer tatsächlichen Realität" zur Erscheinung bringt (S. 76).

Angesichts der soeben ausgemachten Differenz zwischen Risiko- und Szenariotechniken könnte man allerdings sagen, dass das Risikodenken, indem es das Prognostizierte als Norm setzt, auch etwas vom Rationalitätstypus der Disziplin aufnimmt. Szenariotechniken hingegen sind vollends mit dem Möglichen in der Vorstellung beschäftigt, das seinerseits vielleicht das Reale einholen kann.[9] Doch es ist genau dieses Moment des Unvorhersehbaren, Unverfügbaren, das sich bereits im liberalen Sicherheitsdispositiv einstellt. So beobachtet Foucault, wie sich im 18. Jahrhundert für die "gute Stadtgestaltung" als entscheidend erweist,

daß die Zukunft bearbeitet wird, das heißt, daß die Stadt nicht im Zusammenhang einer statischen Wahrnehmung aufgefaßt oder gestaltet wird, die für den Augenblick die Vollkommenheit der Funktion gewährleisten würde, sondern sie öffnet sich für eine nicht genau kontrollierte oder kontrollierbare, nicht genau bemessene oder meßbare Zukunft, und die gute Stadtgestaltung ist genau folgendes: dem Rechnung tragen, was geschehen kann. (S. 39)

Mit dieser Anforderung – "dem Rechnung tragen, was geschehen kann" – zeichnet Foucault einen liberalen Rationalitätstypus vor, der sich angesichts der Krise der Sicherheit auch in der Gegenwart durchgesetzt hat. Gerade weil die Bedrohungen, mit denen wir rechnen müssen, abstrakt sind und sich der Berechenbarkeit entziehen, sind wir gehalten, uns auf das Mögliche einzustellen und vorzubereiten. Wir sollen prepared sein und uns als resilient, das heißt als widerstandsfähige Subjekte erweisen. Dabei handelt es sich freilich nicht um eine Widerständigkeit, die sich gegen eine politische Ordnung richtet, vielmehr um eine Form des Empowerment, die uns auf eine prekäre Ordnung ausrichtet – und uns zugleich auf uns selbst verweist. Wir sollen aktiv Verantwortung für unsere eigene Sicherheit und das Wohl unserer unmittelbaren Umwelt übernehmen, während wir Ungewissheit zugleich hinnehmen müssen. Das Mögliche, als das Bedrohliche, das unberechenbar ist, und das Potenzial, das sich dem entgegensetzen können muss, werden selbst zum Programm. Angst wird so zum Motor einer Mobilisierung, die sich als unabschließbar erweist. Damit stellt sich nun umso mehr die Frage, ob das Mögliche überhaupt als etwas denkbar ist, das der Regierung entzogen sein kann.

Erstaunlicherweise lässt sich in Foucaults Hinwendung zum griechisch-hellenistischen Konzept der Parrhesia ein Ansatzspunkt für dieses Problem finden. Obgleich Foucault hier emphatisch für eine Wahrhaftigkeit eintritt, nämlich "freimütig und aufrichtig" die Wahrheit zu sagen[10], ist diese, wie Zachary Simpson kürzlich dargelegt hat[11], keineswegs außerdiskursiv bestimmt. Sie fügt sich aber in die früher aufgemachte Leitlinie ein, "nicht dermaßen", "nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert" werden zu wollen.[12] Diese Leitlinie geht über eine Widerständigkeit (resistance) hinaus, die den Technologien der Macht, zu denen sie sich ins Verhältnis setzt, stets verhaftet bleibt. Wir müssen den Diskurs immer erst dechiffrieren, um ihn umwenden zu können. Demgegenüber muss die Verweigerung (refusal), welche die immer schon verfertigte Realität zu unterlaufen sucht, sich auf ein Außerhalb der Ordnung beziehen.[13] Die Parrhesia setzt hier an, indem sie einerseits die Genealogie der Ordnung nachzeichnet und sich andererseits in der Praxis der "Fiktionierung" neu erfindet. Denn "Parrhesia is not merely being honest. It is, rather, an act of truthtelling. Parrhesia functions to enact truth".[14] Es geht, in Foucaults Worten, darum,

Wahrheitseffekte mit einem Fiktionsdiskurs zu induzieren, und gewissermaßen dafür zu sorgen, dass der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, erzeugt, das noch nicht existiert, das er also ‚fiktioniert‘. Man ‚fiktioniert‘ Geschichte immer von einer politischen Wirklichkeit her, die sie wahr macht, man ‚fiktioniert‘ eine Politik, die noch nicht existiert, von einer historischen Wahrheit her.[15]

Die Induzierung des Möglichen im Fiktiven subvertiert das Denken des Möglichen in der Regierung der Sicherheit. Dem Phantasma des Katastrophischen setzt sie eine Praxis entgegen, die sich als solche zwangsläufig materialisiert und so einer Irritation und Auflösung vorherrschender Repräsentationsordnungen stattgeben kann – einer Repräsentationsordnung, die mit dem Imaginären der Souveränität zuspricht.



[1] Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France (1977-1978), Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 73. Seitenzahlen im Folgenden im Text.
[2] Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France (1978-1979), Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 99.
[3] Subjekt und Macht, in: Schriften IV, Nr. 306 [1982], Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, 269-294, S. 281ff.
[4] Richard Grusin: Premediation, Criticism 46 (1), 2004, 17-39.
[5] Zum Begriff der Veridiktion z.B. im Hinblick auf die Mechanismen des Marktes vgl. Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France (1978-1989), Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 51ff.
[6] Vgl. J. Peter Burgess: The Ethical Subject of Security. Geopolitical reason and the threat against Europe, Abington, New York: Routledge 2011, S. 7.
[7] Zu diesem Begriff im Anschluss an Luhmann siehe Elena Esposito: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 31.
[8] Ebd.
[9] Slavoj Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen, Wien: Passagen 2002.
[10] Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. Berkeley-Vorlesungen 1983, Berlin: Merve 1996.
[11] Zachary Simpson: The Truths We Tell Ourselves: Foucault on Parrhesia, Foucault Studies 2012, 13, 99-115.
[12] Was ist Kritik?, Berlin: Merve 1992, S. 12.
[13] Mark B. N. Hansen: Foucault and Media. A Missed Encounter?, The South Atlantic Quarterly 2012, 111 (3), 497-528, S. 505.
[14] Simpson, S. 101.
[15] Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über, in: Schriften III, Nr. 197 [1977], Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 298-309, S. 309.

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